Dienstag, 9. Mai 2017

Der jugendliche Staatsanwalt ohne Reifeverzögerung

Das Jugendgerichtsgesetz sieht vor, dass ein Heranwachsender (Person zwischen 18 und 21) entweder nach Jugendstrafrecht oder nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden kann. Welches Recht Anwendung findet, hängt davon ab, ob der Heranwachsende zum Zeitpunkt der Tat eher einem Jugendlichen oder eher einem Erwachsenen gleichstand. In diesem Zusammenhang ist immer die Rede davon, ob bei dem Heranwachsenden sogenannte Reifeverzögerungen vorliegen. Stark vereinfacht könnte man sagen: je schwerer die Jugend umso reifeverzögert.

Kürzlich verteidigte ich bei einem beschaulich gelegenen rheinland-pfälzischen Amtsgericht einen Heranwachsenden wegen einer kleinen Vermögensstraftat. Die Staatsanwaltschaft wurde repräsentiert von einem Jugendstaatsanwalt in adrettem Anzug mit jugendlichem Phänotyp. Die Biografie meines Mandanten klang nun nicht nach ganz schwerer Jugend, aber sein Vater war früh von der familiären Bildfläche verschwunden und die Mutter hatte zusehen müssen, wie sie ihn und seine drei Geschwister versorgt bekam. Schulisch konnte er auch nicht auf eine glanzvolle Karriere zurückblicken. Seinen Hauptschulabschluss hatte er nach Wiederholung zweier Klassen in der Sonderschule gemacht. Einen Ausbildungsplatz fand er nicht und so jobbte er mal hier mal dort. Weiterbildungsmaßnahmen brach er ab und auch mit 23 Jahren wohnt er noch im mütterlichen Haushalt. In meinem Protokoll notierte ich "Reifeverzögerungen" mit einem dicken Pluszeichen dahinter. Weil zudem der Tatvorwurf nicht sonderlich schwer war, lehnte ich mich gelassen zurück um nach der Beweisaufnahme dem Plädoyer des Staatsanwalts zu lauschen. Der Mann hatte eine angenehme Stimme und ich war bereit, mich berieseln zu lassen.
Die angenehme Stimme hob zu meiner Überraschung an, eine hochpreisige Verurteilung nach Erwachsenenstrafrecht zu fordern und mit einem Mal klang sie gar nicht mehr so angenehm. Reifeverzögerungen lägen nicht vor, der Angeklagte habe inzwischen sowohl einen festen Job wie auch eine ebensolche Freundin und nennenswerte Risse in seiner Biografie seien nicht vorhanden.

Beruhigt stellte ich fest, dass auch der Jugendrichter angesichts dieser Ausführungen erst die Stirn in Falten legte um sich hernach mit hochgezogenen Augenbrauen am Hinterhaupt zu kratzen. Er verwarnte meinen Mandanten (im Gesetz heißt es, dass er ihm das Unrecht der Tat vor Augen führte) und führte in der Begründung aus, dass er "ganz unzweifelhaft" von Reifeverzögerungen ausgehe.

Bevor es nun wieder heißt, dass das Jugendstrafrecht viel zu "lasch" sei was die Sanktionen angehe und unter dem Strich einen Täter bevorzuge, der nichts auf die Reihe bekomme, in den Tag hinein lebe und Gras rauche, ein paar Sätze dazu: ein Heranwachsender, der nicht imstande ist, sein Leben selbstständig und ordentlich zu gestalten, hat in aller Regel Eltern, die nicht imstande waren, ihm rechtzeitig Werte zu vermitteln, mit denen ein Erwachsener durch´s Leben gehen sollte. Kurz: die Erziehung gestaltete sich defizitär. Wenn nun ein Heranwachsender mit Erziehungsdefiziten in den Alltag einer deutschen Justizvollzugsanstalt überstellt wird, trifft er dort mitunter auch auf Menschen, die noch größere Defizite im Spiel des Lebens zu verbuchen haben, schlicht zu alt für Erziehung aber nie zu alt dafür sind, ihre vermeintlichen Weisheiten an andere Insassen weiterzugeben.

Bei einem reifeverzögerten Heranwachsenden sagt nicht nur das Gesetz, sondern auch die Entwicklungspsychologie, dass durch Erziehung noch Gutes bewirkt werden kann und das ist der Grund dafür, dass das Jugendgerichtsgesetz neben der Verwarnung noch allerlei mehr Sanktionen vorsieht, die einem jungen Menschen Struktur vermitteln und ihn anleiten sollen, sein Leben selbstbestimmt und gesetzeskonform zu gestalten. Das Jugendstrafrecht lebt sozusagen vom Erziehungsgedanken und solange die Reifeentwicklung nicht abgeschlossen ist, besteht Hoffnung, dass sie in die richtigen Bahnen gelenkt werden kann. Dass ein junger Staatsanwalt als Heranwachsender keine Reifeverzögerungen zu beklagen hatte, darf unterstellt werden. Wenn er diese aber bei "seinen" Angeklagten nicht erkennt, bedarf es eines erfahrenen und mit Augenmaß arbeitenden Jugendrichters wie man ihn bei dem beschaulichen rheinland-pfälzischen Amtsgericht findet.  


1 Kommentar:

Gast hat gesagt…

Echt jetzt: " je schwerer die Jugend umso reifeverzögert"?? Die Lebenserfahrung lehrt das genaue Gegenteil.